"Wir sind in eine Parallelgesellschaft eingetaucht"
Die Dokureihe "Blutsbande – Clans in Berlin" porträtiert Clans arabischer Großfamilien in Berlin. Story House Productions produzierte die drei Folgen über zwei Jahre hinweg in ausdauernder Investigativarbeit. Executive Producer Arnd Piechottka spricht im Interview darüber, wie sein Team in die Welt der Berliner Clans eingetaucht ist.
Was waren die Herausforderungen bei Dreh und Recherche?
Die größte Herausforderung war es, Vertrauen zu gewinnen. Unser Ansatz ist, nicht über die sogenannten Clans zu sprechen, sondern mit ihnen. Wir wollten verstehen, wie diese Familien, die die meisten nur aus Schlagzeilen kennen, ticken. Ziel war es, eine differenzierte Serie zu produzieren, die alle wesentlichen Aspekte in den Blick nimmt. Da geht es zum einen um die kriminellen Familienmitglieder, aber gerade auch um die, die zwischen den Welten leben. Auf der einen Seite sind sie Individuen mit eigenen Träumen, auf der anderen gibt es familiäre Beistandspflichten und Regeln, die es zu befolgen gilt. Es war ein monatelanger Prozess mit vielen, vielen Gesprächen, bis klar war, dass wir diesen Film realisieren können. Auch aufseiten der Ermittlungsbehörden galt es Überzeugungsarbeit zu leisten, da wir die Arbeit der Polizei über einen langen Zeitraum begleiten wollten.
Was war Ihr Türöffner, exklusive Einblicke in arabische Großfamilien zu bekommen?
Die Zugänge sind über einen langen Zeitraum gewachsen. Wir haben im Rahmen einer anderen Dokumentation über den Berliner Stadtteil Neukölln einen sogenannten Vermittler kennengelernt, der für einen bestimmten Clan hin und wieder Kontakte herstellt. Irgendwann sprach sich dann in der Szene rum, dass Story House für ZDFinfo eine mehrteilige Dokumentation vorbereitet. Außerdem hat Esther Hofmann, unsere Investigativreporterin, über ihre Zugänge Türen geöffnet. Sowohl im Clanmilieu als auch bei den Behörden. Der Schlüssel war aber schließlich die Zeit. Viele Treffen, Geduld bei der Umsetzung. Es gab oft auch Phasen, da ist der Kontakt wieder versiegt, meist nach großen Polizeieinsätzen. Dann herrschte erst mal wieder Funkstille. Wir haben daher zwei Jahre lang produziert.
In was für eine Welt sind Sie eingetaucht?
Die Welt der Familienclans ist in großen Teilen eine Parallelgesellschaft, die beinahe autark neben der sogenannten Mehrheitsgesellschaft existiert – in die sind wir eingetaucht. Es ist ein Nebeneinander, bei dem die Berührungspunkte teilweise gering sind. Der ganze Alltag wird innerhalb der eigenen Strukturen organisiert, es ist ein geschlossenes System. Das macht es ja auch für die Ermittler so schwer, an Informationen ranzukommen. Denn die Aussagebereitschaft in Clanfamilien vor Gericht ist so gut wie gar nicht vorhanden, wenn man mal von wenigen Ausnahmen absieht. Man muss allerdings sagen, dass wir hier von den Kernfamilien sprechen, diese Feststellung gilt daher nicht für jeden, nur weil er einen bestimmten Nachnamen hat. Man kann sogar sagen, dass die Problematik der Parallelgesellschaft den geringsten Teil der Familienmitglieder betrifft. Ein wichtiger Punkt, dem wir in der Serie auch Raum geben. Denn die vielen unbescholtenen Familienmitglieder leiden unter den Taten ihrer (entfernt) Verwandten. Für die wird der Familienname dann zum Fluch: Sie finden keine Arbeit, keine Wohnung, bekommen in manchen Fällen nicht einmal ein Konto.
© Story House Productions
Welche Familien stellen Sie vor und durch was sind diese öffentlich bekannt geworden?
Die großen, vor allem durch die Boulevardpresse bekannten Namen kommen natürlich vor, auch wenn die Bekanntheit der Familien kein Auswahlkriterium war, um zu entscheiden, welche Geschichte wir erzählen. Da ist zum einen Hamza Al-Zein. Er spricht exklusiv über den KaDeWe-Raub, den er mit mehreren Familienmitgliedern begangen hat. Damals erbeuteten sie Schmuck und Uhren im Wert von rund 800.000 Euro in nur 79 Sekunden. Die Bilder der Überwachungskamera hat man oft gesehen, doch was hat dazu geführt? Anna Schultz und Joshua Werner haben ihn mehrfach zum Interview getroffen und zeichnen ein Bild davon, welche Rolle die familiären Strukturen bei der Begehung der Tat gespielt hat. Wir waren auch dabei, als Hamza Al-Zein zusammen mit seinem Strafverteidiger die Strategie für zwei neue Strafverfahren besprochen haben. Zudem konnten wir das Oberhaupt einer in Polizeikreisen bekannten arabischen Großfamilie für die Folge "Parallelgesellschaft" in seinem Alltag begleiten und miterleben, wie in dieser Welt Konflikte gelöst werden. Durch solche Alltagsszenen versteht man meiner Meinung nach, wie tief die Probleme reichen, wie strukturell diese verankert sind.
Warum – vermuten Sie – waren manche Mitglieder arabischer Großfamilien bereit, Einblick in das Leben des Clans zu geben?
Es gab aufseiten der Großfamilien ein weitverbreitetes Bedürfnis danach, ihre Sicht der Dinge darzustellen, nämlich das nur ein sehr kleiner Teil der Großfamilien kriminell ist. Interessant war, wie differenziert innerhalb der Familien die Kriminalitätsbelastung betrachtet wird. Da wurde auch ganz offen über familienstrukturelle als auch kulturelle Ursachen diskutiert. Das Thema ist eben vielschichtig und reicht zurück bis zur Integrationspolitik der 1980er-Jahre. Die damals gemachten Fehler wirken bis heute nach.
Welche Erkenntnisse zum Thema Großfamilie haben Sie überrascht?
Aus unseren Einzelgesprächen fügt sich ein wenig das Bild, dass sich, so bitter es klingen mag, die Integration im Rückwärtsgang befindet. Gerade die junge Generation, und ich spreche hier jetzt von den Kernfamilien, die vielfach polizeilich in Erscheinung treten, fühlt sich unverstanden, nicht zu dieser Gesellschaft zugehörig. Sie zieht sich zurück, es gibt nur wenig Kontakte außerhalb der Familie. Erschreckend sind die Aussagen einer Lehrerin, die an einer Berliner Brennpunktschule unterrichtet hat. Sie habe das Gefühl, dass Kinder aus sogenannten Clanfamilien mit pädagogischen Mitteln gar nicht mehr ansprechbar seien.
Die drei Folgen der Dokuserie "Blutsbande – Clans in Berlin" sind am 03. März ab 20:15 Uhr bei ZDFinfo zu sehen und bereits jetzt in der ZDF Mediathek zum Streamen verfügbar.
Interview: ZDF Presse (Birgit-Nicole Krebs)